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Geldschöpfung und kein Ende: Robinson und die Eichhörnchen

Dirk Löhr

Um die Geldschöpfungsdebatte habe ich bewusst immer einen großen Bogen gemacht – die Chance, sich einen Shitstorm einzufangen und arbeitsunfähig zu werden, ist kaum irgendwo größer als hier. Doch sei’s drum. Ich sehe mich nun genötigt, das Thema in diesem Blog aufzugreifen. Denn manche Befürworter der „autonomen Geldschöpfung“ der Geschäftsbanken gehen so weit zu behaupten, Kredite könnten vergeben werden, ohne dass zuvor Ersparnisse gebildet worden wären. Dies würde bedeuten, dass das auf die Physiokraten zurückgehende und von Gesell und Keynes aufgegriffene volkswirtschaftliche Kreislaufdenken obsolet wäre. M.E. ist dies harter Tobak, der zustande kommt, weil

  • die realwirtschaftliche „Parallelwelt“ in der Argumentation nicht beachtet wird und
  • die Argumentation genauso wenig wie die Neoklassik zwischen Kapital und Land differenziert.

In einem ersten Schritt soll nachfolgend der Geldschöpfungsvorgang anhand einer Robinsonade so dargestellt werden, wie das auch die Deutsche Bundesbank in ihren Veröffentlichungen macht. In einem zweiten Schritt wird dann die Erweiterung um die realwirtschaftliche Parallelwelt vorgenommen. Der dritte Schritt macht die Konsequenzen einer Differenzierung zwischen Land und Kapital deutlich. In einem Schlussteil werden noch ein paar Anmerkungen zur Rolle des Zinses und der ökonomischen Renten gemacht.

 

Das Geldschöpfungsphänomen

Anders als einige Autoren v.a. aus dem freiwirtschaftlichen Spektrum folgen wir der Auffassung, dass eine Geldschöpfung der Banken existiert. Die nachfolgenden Ausführungen sind bewusst z.T. wörtlich an diejenigen der Deutschen Bundesbank zu diesem Thema angelehnt:

In der Regel gewährt die Bank einem Kunden einen Kredit und schreibt ihm den entsprechenden Betrag auf dessen Girokonto als Sichteinlage gut. Wird einem Kunden ein Kredit über 1.000 GE gewährt (z. B. Laufzeit 1 Periode), erhöht sich die Sichteinlage des Kunden auf seinem Girokonto um 1.000 GE. Es ist Buchgeld entstanden oder es wurden 1.000 GE Buchgeld geschaffen.

Vergibt die A-Bank also den Kredit an Robinson, so kann sie diesen in einem ersten Schritt dadurch finanzieren, dass sie den entsprechenden Betrag an Buchgeld selbst schafft. Sie verbucht auf der Aktivseite ihrer Bilanz den gewährten Kredit als Forderung an den Kreditnehmer, auf der Passivseite ihrer Bilanz schreibt sie dem Kreditnehmer den Kreditbetrag auf dessen Konto als Sichteinlage gut. Aus Sicht der Bank ist diese Sichteinlage eine Verbindlichkeit – sie schuldet dem Kontoinhaber dieses Geld.

In der stilisierten Bilanz der A-Bank sieht dies folgendermaßen aus:

A-Bank
Aktiva Passiva
1.000 GE Kredit an Robinson Sichtguthaben Robinson 1.000 GE

Die Kritik, die Banken würden an dieser Stelle wegen der Zinsdifferenz zwischen Kreditzinsen und Zinsen auf Sichtguthaben hohe Zinsgewinne erzielen, hält allerdings nicht. Robinson wird nämlich das ihm eingeräumte Sichtguthaben schnellstens für eine Zahlung (an Freitag) verwenden, von dem er z.B. einen Speer kauft. Dabei überweist Robinson die 1.000 Euro auf ein Girokonto von Freitag bei der B-Bank. Für die Kredit gebende A-Bank bedeutet dies, dass die Sichteinlage des Kunden, also das selbst geschaffene Buchgeld, abfließt – und dass sie den Kredit nun “refinanzieren” muss. Laufen alle Vorgänge in einer einzigen “logischen Sekunde” ab (dazu unten mehr), kann ihr dazu die B-Bank einen Kredit gewähren – viele Banken haben tatsächlich untereinander entsprechende Vereinbarungen.

A-Bank
Aktiva Passiva
1.000 GE Kredit an Robinson Sichtguthaben Robinson 0 GE
Verbindlichkeit ggü. B-Bank 1.000 GE

In der Bilanz der B-Bank wird dies wie folgt abgebildet:

B-Bank
Aktiva Passiva
1.000 GE Kredit an A-Bank Sichtguthaben Freitag 1.000 GE

Die A-Bank hat somit eine täglich fällige Verbindlichkeit gegenüber der B-Bank. Die A-Bank muss nun den Zinsertrag aus dem Kundenkredit an Robinson zum Teil an die B-Bank abgeben – und damit einen Teil ihres Gewinns aus der Buchgeldschöpfung.

Fazit: Ohne auf Zentralbankgeld zurückgreifen zu müssen, wird im obigen Beispiel ein neues Guthaben erzeugt – das definitionsgemäß als „Geld“ gilt. Definitionen können nun nicht richtig oder falsch, sondern nur zweckmäßig oder unzweckmäßig sein. Schließt man sich der allgemein gültigen Gelddefinition an, hat das Bankensystem unabhängig von der Zentralbank Geldschöpfung vollzogen. Angemerkt sei allerdings, dass der oben beschriebene Vorgang in einer “logischen Sekunde” geschah. Soweit die verschiedenen Schritte in der Realität zeitlich aufeinander folgend ablaufen, kann der Vorgang sich nicht so unabhängig von der Zentralbank wie beschrieben vollziehen. Hinzu kommt auch das Erfordernis, wegen unvorhersehbarer (Bar-) Geldabflüsse Liquiditätsreserven sowie die vorgeschriebene Mindestreserve zu halten. Die Bank wird sich allerdings v.a. im Wege von Clearingprozessen zu einem beträchtlichen Teil tatsächlich zeitgleich refinanzieren können. Sofern dies unsicher oder unmöglich ist, müssen die entsprechenden Finanzierungsmittel (bereit gestellt durch andere Banken, Unternehmen oder durch private Sparer) schon vor der Kreditvergabe für die Kredit gebende Bank zur Verfügung stehen. Doch selbst im oben dargestellten Fall der zeitgleichen Refinanzierung müssen schon realwirtschaftliche Ersparnisse VOR der Kreditvorgabe existieren. Diese realwirtschaftliche Perspektive wird nachfolgend illustriert.

 

Die realwirtschaftliche Seite

Die meisten Betrachtungen über die Geldschöpfungsvorgänge enden nach dem oben dargestellten ersten Schritt. Dabei wird es nun eigentlich erst interessant. Was ist nämlich realwirtschaftlich passiert? Robinson hat von Freitag einen Speer gekauft. Dieses Kapitalgut wurde bereits vorher von Freitag hergestellt – es stellte eine realwirtschaftliche Ersparnis (durch Freitag) dar. Diese wird nun mittels Kreditfinanzierung durch Robinson in Anspruch genommen. Realwirtschaftlich muss bei einer Kreditbeziehung also auf schon vorhandene Vermögenswerte zurückgegriffen werden; eine „Kreditvergabe aus dem Nichts“ wäre unsinnig, wenn es nichts gäbe, was man für diesen Kredit kaufen könnte. Es fand also durchaus eine Ersparnisbildung statt – nämlich vorliegend durch Freitag, der den Speer (Kapitalgut) herstellte, aber vor dem Deal mit Robinson nichts mit dessen A-Bank zu tun hatte (die Hausbank von Freitag ist die B-Bank). Die Eingangsbilanz des Robinson sieht nach Kauf des Speers via Kreditaufnahme folgendermaßen aus:

Robinson: Eingangsbilanz (1.1.)
Aktiva Passiva
1.000 GE Speer Verbindlichkeit A-Bank 1.000 GE
 Eigenkapital  0 GE

Nehmen wir nun an, Robinson jagt mit dem Speer Eichhörnchen. Die Viecher sind schnell, und viele Würfe treffen daneben, nämlich auf Steine und Felsen. Durch das Jagen nutzt sich während der Periode also der Speer ab. Am Anfang der Periode war er noch 1.000 GE wert, am Ende nichts mehr. Die gemeuchelten Eichhörnchen wiederum verkauft Robinson gesalzen und gepökelt an Freitag; die Erlöse i.H.v. 1.000 werden in einem Betrag am Ende der Periode von Freitag an Robinson gezahlt. In der stilisierten Schlussbilanz Robinsons wird der Vorgang wie folgt abgebildet:

Robinson: Schlussbbilanz (31.12.)

Aktiva

Passiva

0 GE Anfangsbest.1.1. AB Verbindlichkeiten 1.1.

0 GE

1.000 GE Anschaffung Speer Verbindlichkeit A-Bank

1.000 GE

./. 1.000 GE ./. Abschreibungen Tilgung aus Abschreibungen

./. 1.000 GE

0 GE Endbestand 31.12. EB Verbindlichkeiten 31.12.

0 GE

AB Eigenkapital 1.1.GuV-Konto:Erlöse:                     1.000 GEAbschreib.:      ./. 1.000 GEGewinn:                         0 GE  0 GE
EB Eigenkapital 31.12.

0 GE

Die Struktur der Bilanz wurde geändert, um die Korrespondenz zwischen Abschreibungen und Kredittilgungen deutlich zu machen: Denn während der Periode wird aus dem Gegenwert der Abschreibungen der laufende Kredit des Robinson getilgt.

Die A-Bank hat daher am 31.12. weder einen ausstehenden Kredit gegenüber Robinson gebucht, noch hat sie Verbindlichkeiten gegenüber der B-Bank, da sie aus den zufließenden Geldmitteln die Verbindlichkeit gegenüber der B-Bank begleicht. Zumal die Zahlung für die Eichhörnchen an Robinson durch Freitag ebenfalls via Überweisung vorgenommen wurde, ist zum Periodenende auch dessen Konto leer geräumt. Die Schlussbilanzen der A-Bank und der B-Bank sehen dann stilisiert folgendermaßen aus:

Schlussbilanz A-Bank
Aktiva Passiva
0 GE Kredit an Robinson Sichtguthaben Robinson 0 GE
Verbindlichkeit ggü. B-Bank 0 GE
Schlussbilanz B-Bank
Aktiva Passiva
0 GE Kredit an A-Bank Sichtguthaben Freitag 0 GE

Fazit: Die Existenz des geschöpften Geldes währte so lange, wie das Kapitalgut abgeschrieben wurde und aus den Abschreibungen die Kredittilgung erfolgte. Im vorliegenden Beispiel war dies aus didaktischen Gründen nur eine Periode. Und in der Realität ist die Übereinstimmung zwischen Abschreibungs- und Kredittilgungsdauer natürlich nicht perfekt. In der Summe hält sie aber. Die angestellte Betrachtung zeigt, dass sich durch die Geldschöpfung der Banken die geldwirtschaftliche Seite nicht von der realwirtschaftlichen Seite lösen kann. Wo zusätzliches Geld geschöpft wurde, gab es auch zusätzliche (Kapital-) Güter. Mit dem Verschwinden der Letzteren verschwindet auch das geschöpfte Geld.

 

Störfaktor: Nicht abnutzbare Vermögenswerte

Anders sieht es freilich aus, wenn nicht abnutzbare Wirtschaftsgüter über Kredite finanziert werden. Klassischerweise sind dies Grund und Boden sowie Beteiligungen. Im Buch „Prinzip Rentenökonomie: Wenn Eigentum zu Diebstahl wird“ […] habe ich dargestellt, dass auch Beteiligungen an Unternehmen als „indirekte Investitionen“ in Land (als Genusbegriff) verstanden werden können. Wichtig sind nun folgende Aspekte:

  • Versteht man unter „Sparen“ im volkswirtschaftlichen Sinne den realwirtschaftlichen Aufbau von Vermögenswerten zum Zweck des späteren Gebrauchs / Verbrauchs, so kann man in Land nicht sparen. Man kann lediglich den Wert von Land „aufblasen“- mit dem Risiko, dass diese Blase irgendwann einmal platzt. Ähnliches gilt für Beteiligungen an Unternehmen.
  • Genauso wenig kann man aus den Abschreibungen auf Land Kredittilgungen vornehmen – hier gibt es nämlich keine Normalabschreibungen. Für Unternehmensbeteiligungen gilt Entsprechendes.
  • Zinsen könnten allerdings aus Land gezahlt werden, nämlich aus den Bodenrenten. Oftmals wird übersehen, dass über Kreditzinsen de facto Renten an die Kreditgeber weitergeleitet werden.

Wenn also Robinson von Freitag keinen Speer, sondern eine Parzelle kauft, kann der im vorangehenden Abschnitt beschriebene Mechanismus nicht funktionieren. Das Bankensystem kann zwar Geld schöpfen;  dieses geschöpfte Geld kann aber nicht zurückgeführt werden. Vielmehr erhöht sich einerseits die umlaufende Geldmenge, und spiegelbildlich werden die nicht abschreibungsfähigen, rententragenden Assets aufgeblasen. Die Kreditaufnahme erfolgt nicht zum Zwecke der Verfügung über realwirtschaftliche Ersparnisse; insoweit sind auch keine neuen Güter und Dienstleistungen entstanden.  In der Fisherschen Verkehrsgleichung zeigt sich die Inflationierung der Finanzstratosphäre in einer Abnahme der Umlaufgeschwindigkeit der jeweiligen Geldmengenaggregate – wie wir sie ja auch tatsächlich im säkularen Trend beobachten können.

Eine „Bereinigung“ via Geldvernichtung (incl. Vernichtung der entsprechenden Forderungen im Bankensystem) findet erst dann statt, wenn die Blase eines schönen Tages platzt. Die „Geldvernichtung“ erfolgt dann aber nicht in kontrollierten Bahnen (wie bei abnutzbaren Kapitalgütern), sondern eben im Rahmen einer Krise.

Fazit: Heikel wird es für die Wirtschaft insbesondere bei kreditfinanzierten Immobilenbooms. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass sowohl die räumlichen Preisunterschiede (z.B. zwischen einem Haus desselben Typs in Mecklenburg-Vorpommern und München) als auch die zeitlichen Preisunterschiede (z.B. die Immobilienpreisentwicklung in Mecklenburg-Vorpommern und München im Laufe der Zeit) zu einem erheblichen Teil auf die Boden- und nicht die Gebäudekomponente zurückzuführen sind (auch dies haben wir in diesem Blog immer wieder beschrieben). Für Beteiligungen an Unternehmen gilt Entsprechendes, weswegen Formen wie kreditfinanzierte „Management Buy Outs“ u. dgl. aus volkswirtschaftlicher Perspektive grundsätzlich kritisch zu beurteilen sind.

 

Anmerkungen zum Schluss

Aus den Ausführungen sollte hervorgegangen sein, dass Kreditvergaben und Investitionen ohne vorherige (realwirtschaftliche) Ersparnisse nicht möglich sind (allerdings muss die Ersparnisbildung nicht unbedingt immer einen unmittelbaren Bezug zur kreditgebenden Bank aufweisen). Die Kreislaufbetrachtung der Wirtschaft ist somit nicht obsolet.

Der Text wollte auch darstellen, dass ein wesentliches Problem nicht die Geldschöpfungsfähigkeit der Geschäftsbanken an sich ist. Das Problem liegt vielmehr darin, dass rententragende, nicht abnutzbare Vermögenswerte (v.a. Grund und Boden sowie Unternehmensanteile) von den ausgegebenen Krediten gekauft werden können. Dies führt zu immer größeren Geldmengen, denen keine Güter und Dienstleistungen gegenüberstehen, und die nicht wieder vernichtet werden können. Die Folge ist eine Assetpreisinflation.

Die sauberste Lösung wäre die Dekapitalisierung von Land über eine Bodenwertsteuer oder eine Erbbaurechtslösung, über die in diesem Blog immer wieder diskutiert wurde (ergänzend wäre u.a. auch das Urheber- und Patentrecht zu ändern, das ein Abklatsch der Eigentumsrechte an Grund und Boden darstellt). Ist Land in privater Hand wertlos, erfolgt auch keine Kreditfinanzierung desselben. Eine drittbeste Lösung (weil sie die eigentlichen Probleme ebenfalls nicht auf die Hörner nimmt) wäre eine Regulierung dahingehend, dass Kreditvergaben zum Zwecke des Kaufs von Grund und Boden sowie Unternehmensbeteiligungen möglichst unterbunden werden.  In eine solche Richtung ging z.B. die in den letzten Jahren durchgeführte Politik der VR China – in Gestalt von Restriktionen bei Krediten zum Kauf von Immobilien. Schließlich sind Vollgeld und 100%-Money leider nur Scheinlösungen, da sie das hier dargestellte Schlüsselproblem nicht grundsätzlich angehen.

Weil ich den vernachlässigten Aspekt der rententragenden Assets hervorheben wollte, habe ich in diesem Beitrag bewusst das Problem der Verzinsung von Einlagen und Krediten in den Hintergrund gestellt, die ebenfalls Schieflagen in das Finanzsystem tragen kann.

Video: Pay for what you get!

Anbei der Vortrag von Dirk Löhr im Rahmen der 54. Mündener Gespräche in der Reinhardswaldschule bei Kassel am 22. November 2014 (Video, 1:05 Std.):

“Pay for what you get!” – Henry George als Ergänzung zu Silvio Gesell (bitte klicken)

Die schriftliche Fassung kann hier heruntergeladen werden

“Pay for what you get!” – Zeitschrift für Sozialökonomie (bitte klicken)

Life below zero? Ein Nachwort zur Rede von Benoît Cœuré

Dirk Löhr

In unserem Beitrag „Life below zero? Negativzinsen und Assetpreisinflation“ sind wir bereits am 23.9. auf die – vielleicht historische Rede des Direktoriumsmitglieds der Europäischen Zentralbank (EZB) Benoît Cœuré am 9.9.2014 in Frankfurt mit dem Titel „Life below zero: Learning about negative interest rates“ eingegangen. Hat die EZB damit ein Tabu gebrochen? Fast sieht es so aus.

Benoît Cœuré
Benoît Cœuré

Wiederholt bezieht sich Cœuré in seiner Rede auf Silvio Gesell, ohne ihn dabei hochmütig abzukanzeln, wie es lange Zeit der Stil von Wissenschaft und Politik war.

Dabei ist Cœuré nicht irgendein durchgeknallter Spinner, sondern Mitglied des Zentralbankrates der EZB. Seine Rede ist die eines Zentralbankers, der nachdenklich geworden und neue Wege zu beschreiten bereit ist.

Am 5. Juni diesen Jahres reduzierte die EZB ihren Refinanzierungssatz für Banken auf 0,15 % und den Einlagesatz für Banken auf minus 0,1 %. Am 4. September schließlich legte die EZB noch einmal drauf: Die Sätze wurden noch einmal auf 0,05 % bzw. auf – 0,20 % gesenkt. Die EZB war dabei darauf bedacht, den Einlagesatz geringer als den Refinanzierungssatz zu halten, damit der Interbankenmarkt nicht ins Stocken kommt.

Vor diesem Hintergrund hat die Rede von Cœuré bei manch kritischem Betrachter des heutigen Geldwesens neue Hoffnungen erweckt; Hoffnungen, dass die EZB nun auf den Kurs von Gesell (1919 / 1949) einschwenken könnte.

Bei näherem Hinsehen wird allerdings deutlich, dass derzeit noch kein Grund für ungebändigte Freude besteht: Zunächst wird eine Belastung des umlaufenden Bargeldes durch Cœuré überhaupt nicht thematisiert; er hält das Problem offenbar allein deswegen schon für gelöst, weil beim Zahlungsverkehr Transaktionskosten anfallen. Cœuré übersieht jedoch dabei, dass die von Gesell (1919 / 1949) und Keynes (1936 / 1983) thematisierten Durchhaltekosten (im Kontext mit der Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes) einen anderen Charakter haben als die von Cœuré angeführten Transaktionskosten (die im Kontext mit der Tausch- und Zahlungsmittelfunktion entstehen).

Ebenso wenig werden die privaten Einlagen mit Geldcharakter erwähnt, die – zumindest beim derzeitigen Einlagensatz von minus 0,20% – noch so gut wie überhaupt keine Weiterbelastung erfahren. Von einem Negativzins auf Giralgeld sind wir also ebenfalls noch weit entfernt – das gilt umso mehr wenn man die positiven Liquiditätsprämien betrachtet, die selbst im ertragslosen Zustand (wie auch bei Bargeld) noch zu einem deutlich positiven Eigenzinssatz (Keynes) führen.

Die Niedrigzinspolitik findet derzeit am kurzen Ende des Geld- und Kapitalmarktes statt. Am langen Ende sind die Zinsen durchaus noch deutlich sichtbar (und können nicht nur durch Arbeits- und Risikokosten der Kreditinstitute begründet werden, wie dies Cœuré macht). Selbst, wenn die Zentralbank dazu übergeht, auch mit dem Refinanzierungssatz in einen deutlich negativen Bereich zu gehen, ändert sich hieran nichts. Der Grund hierfür: Die Liquiditätsprämie des Geldes verschwindet ja nicht durch die großzügige Emissionspolitik der Zentralbank – sie kommt im Geldverkehr zwischen Privaten wieder zum Vorschein.

Im Übrigen vermisst man in der Rede von Cœuré Gedanken über das Zusammenspiel zwischen Geldumlaufsicherungsgebühr bzw. “Negativzins” und der Eigentumsordnung, wie sie für Gesell (1919 / 1949) und auch für Keynes (1936 / 1983) eine hohe Bedeutung hatten:

  • Ist ein “Negativzins” bei einem positiven Eigenzinssatz (Keynes 1936 / 1983) von Land und Natur (im Privateigentum) überhaupt möglich? Oder stehen Arbitrageprozesse dagegen, die das Geld v.a. in Immobilien und Aktien schwappen lassen? Auch Maurice Allais teilte diese Befürchtung.
  • Der Bodenwert ergibt sich näherungsweise aus der Bodenrente, dividiert durch den (Real-) Zinssatz; der Unternehmenswert aus der ökonomischen Rente des Unternehmens, dividiert durch den (Real-) Zinssatz. Welches sind die Auswirkungen einer “Negativzinspolitik” auf Assetpreisinflationen, v.a. auf den Immobilien- und Aktienmärkten? Kommt es zu einer Vermögenspreisexplosion, die z.B. Wohnen unerschwinglich werden lässt?

An dieser Stelle wäre es schön gewesen, von Cœuré ein Wort darüber zu hören, dass die Niedrigzinspolitik der EZB durch eine Politik der Abschöpfung der ökonomischen Renten im Euroraum begleitet werden sollte (hierzu: Löhr / Harrison 2013).

Es bleibt also festzuhalten: Die Rede von Cœuré ist ein gewaltiger gedanklicher Sprung und könnte der Vorbote eines Paradigmenwechsels der EZB sein. Die derzeitige Politik der EZB ist allerdings noch weit weg von der Blaupause, die Silvio Gesell vorschwebte. Warten wir also ab, was da noch folgt.

Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Thema erfolgt voraussichtlich demnächst in einem mit Felix Fuders zusammen geschriebenen Artikel in der Zeitschrift „Fairconomy“.

 

Literatur:

Gesell, S. (1919 / 1949): Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld, 9. Aufl., Lauf bei Nürnberg 1949.

Cœuré, B. (2014): Life below zero: Learning about negative interest rates (Presentation at the annual dinner of the ECB’s Money Market Contact Group, Frankfurt am Main, 9 September 2014). Online: http://www.ecb.europa.eu/press/key/date/2014/html/sp140909.en.html. Accessed 29 September 2014.

Keynes, J. M. (1936 / 1983): Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, 6. Aufl., Berlin.

Löhr, D. / Harrison, F. (2013). Ricardo und die Troika – für die Einführung einer EU-Bodenwertabgabe, in: Wirtschaftsdienst 10, S. 702-709. Online: http://link.springer.com/article/10.1007%2Fs10273-013-1586-1

“Pay for what you get!” – Henry George als Ergänzung zu Silvio Gesell

Dirk Löhr

Henry George und Silvio Gesell: Beide Theoretiker hatten Stärken und Schwächen.

Silvio Gesell
Silvio Gesell
Henry George
Henry George

Zusammen sind sie aber ein starkes Team: Stark ist nämlich die Geld- und Kapitaltheorie von Silvio Gesell, stark ist auch die Renten- und Steuertheorie von Henry George.

 

Siehe hierzu den Vorabdruck aus der Zeitschrift für Sozialökonomie (182. / 183. Folge, 51. Jahrgang, Oktober 2014):

“Pay for what you get!” (bitte klicken)

Mehr zu diesem Thema und darum herum können Sie in der Veranstaltung

Neue Orientierungen der
Geld- und Bodenrechtsreform (bitte klicken)

erfahren. Die Veranstaltung findet am 22. und 23. November 2014 in Kassel statt.

 

Ordnungspolitik statt Gemeinwohlökonomie: Befreit die Wirtschaft von der Ethik!

Dirk Löhr

Dieser Text ist zugleich eine Antwort auf die Erwiderung von Anton Wundrak & Gerd Hofielen. Zunächst ein kleines “Chapeau”: Obwohl ich mit dem Blogbeitrag „Gemeinwohlökonomie: Robespierre lässt grüßen“ tatsächlich provozieren wollte, sind statt eines Shitstorm durchweg sehr sachliche Beiträge eingetroffen. Überzeugt haben diese mich allerdings dennoch nicht.

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Nach wie vor sehe ich als eines der größten Probleme der Gemeinwohlökonomie (GWÖ) ihre ordnungspolitischen Defizite, wenngleich sie eine marktwirtschaftliche Orientierung vorgibt (s. die Homepage (https://www.ecogood.org/). Beispielsweise finden die Grundgedanken Euckens (1990) in der GWÖ keinen Niederschlag. Zwar werden die Institutionen, die das unternehmerische Handeln in eine falsche Richtung lenken, von der GWÖ nicht gut geheißen – ihre Modifikation ist jedoch nicht das vorrangige Anliegen. So stehen z.B. Sperrpatente auf der Negativliste, das Patentwesen an sich erregt jedoch allenfalls ein dumpfes Unbehagen – nicht mehr. Dabei ist das Patentwesen dem Privateigentum an Land und Natur nachgeäfft: Man kann damit ökonomische Renten erzielen, andere Akteure blockieren und Kosten auf unbeteiligte Dritte abschieben. Immerhin erkennt Felber (2012) – eher intuitiv als analytisch – die Problematik des Privateigentums an Land und Natur. Doch fehlt die Problematisierung der Renten aus Land und Natur sowie die Verknüpfung mit den Absurditäten und Ungerechtigkeiten des heutigen Abgaben- und Steuerwesens – was eines der Hauptanliegen von Henry George (1885) war. Ähnliche Defizite bestehen bezüglich des heutigen Geldwesens. Die Kritik von Silvio Gesell (1949; „Freigeld“) und Irving Fisher (1935) „100 %-Money“ bzw. die sich daran anschließende Vollgelddiskussion) wird ebenfalls nicht gezielt aufgegriffen.

Die GWÖ setzt also nicht am ordnungspolitischen Rahmen an; vielmehr geht es ihr um die ethische Bewertung des unternehmerischen Handelns. Diejenigen, die sich nach den ethischen Maßstäben der Gemeinwohlmatrix vorbildlich verhalten, sollen Privilegien genießen, etwa bei der Kreditvergabe. Dem Ordnungspolitiker müssen hier aber die Haare zu Berge stehen. Privilegien haben wir wirklich schon genug – genau das ist unser Problem. Wir leben nicht in einer Marktwirtschaft, wie uns mancher Einfalts-Liberaler einreden mag, sondern in einer Privilegienwirtschaft. Deren radikale Abschaffung sollte das Ziel sein, nicht ihre Ausweitung auf die bisher zu Kurz gekommenen “Gutmenschen”.

Klar, Wundrak und Hofielen könnten mit Erich Kästner antworten „es gibt nichts Gutes außer man tut es“. So verweisen sie auf die positiven Effekte der Orientierung an einer Gemeinwohlmatrix. Die Sparda Bank München eG zahlt nach ihren Angaben keine Provisionen mehr für den Verkauf von Finanzprodukten, um eine rein durch den persönlichen Profit gesteuerte Kundenberatung auszuschließen. Sicherlich – das ist positiv zu bewerten. Dasselbe könnte man allerdings – und nicht nur für die Sparda Bank München eG – erreichen, wenn das Prinzip der persönlichen Haftung konsequent durchgesetzt würde. Die heutigen Haftungsprivilegien für juristische Personen und ihre Organe gehören abgeschafft (vgl. Eucken 1990).

Walter Eucken
Walter Eucken

Wenn in einer Bank strukturelle Anreize für Falschberatung (auf Kosten der Kunden) existieren und Bankvorstände hierfür nicht mit ihrem persönlichen Vermögen geradezustehen haben, öffnet man solchen Fehlentwicklungen Tür und Tor. Wenn im Rahmen der Gemeinwohlmatrix ein paar von diesen unzähligen Fehlentwicklungen benannt und beseitigt werden, mag man sich freuen und dies öffentlichkeitswirksam feiern. Indessen geht dies noch lange nicht an den Kern des Problems, sondern ist ein Tropfen auf den heißen Stein. An tausenden anderen Baustellen gehen die Fehlentwicklungen – meist unbemerkt – fleißig weiter.

Damit kein Missverständnis entsteht: Gegen die Verwendung einer Gemeinwohlmatrix im Rahmen der betrieblichen Entscheidungsfindung ist nichts einzuwenden. Ganz im Gegenteil ist es ein Zeichen weitsichtiger Unternehmensführung, wenn man sich nicht nur am (kurzfristigen) Gewinn, sondern auch an anderen Leitwerten (Bossel 1998) orientiert. Welche Hilfen ein Unternehmer hierfür verwendet, sollte ihm jedoch überlassen bleiben. Wählt er die Gemeinwohlmatrix, ist das gut so. Hält er – auch aufgrund seines subjektiven Wertesystems – andere Entscheidungshilfen für Ziel führender, sollte ihm auch diese Möglichkeit offen stehen.  Dies gilt auch für das Beispiel der von Wundrak / Hofielen diskutierten Reduktion der Gehaltsspreizung. So verstanden wäre die betriebliche Orientierung an einer Gemeinwohlmatrix zunächst nur dem Überleben des eigenen Unternehmens (als gesellschaftlichem Subsystem) förderlich, aber noch nicht dem Gesamtsystem (der Gesellschaft).

Von Gemeinwohlökonomie könnte man tatsächlich erst dann reden, wenn man das Wertesystem hinter der Gemeinwohlmatrix allgemeinverbindlich macht. Und hiermit dürften viele Menschen (der Verfasser dieser Zeilen eingeschlossen) ein Problem haben – wenn die zugrundeliegenden Werte nicht geteilt werden. Sie sind nämlich nicht so universell wie  von Wundrak / Hofielen behauptet. Andererseits sind viele der heutigen Institutionen und die dahinter stehenden Werte (wie z.B. unser heutiges Steuersystem) für einige Zeitgenossen (incl. dem Verfasser dieser Zeilen) höchst problematisch, offenbar aber nicht für Herrn Felber und seine Anhänger. Dies wäre allerdings eine eigene Diskussion wert.

Im Übrigen kann auch im Rahmen eines Zertifizierungssystems auch nicht ansatzweise überprüft werden, inwieweit das unternehmerische Handeln dem Gemeinwohl dienlich war. Nicht nur, dass man erst einmal zu einer allgemein akzeptierten Definition dessen kommen müsste. Was ist unter „Gemeinwohl“ überhaupt zu verstehen? Hieran haben sich nicht nur die Wohlfahrtsökonomik und die Glücksforschung bislang die Zähne ausgebissen. Die diesbezüglichen Vorstellungen des Herrn Felber müssen eben nicht die meinen sein. So sind alle Versuche, unternehmerisches Verhalten in Bezug auf ihre Beiträge zum Gemeinwohl konkret zu bewerten, eine ziemlich subjektive Angelegenheit.

Von einem ordnungspolitischen Standpunkt aus kann man die Fehlleistungen der heutigen Institutionen auf folgenden Nenner bringen: Sie tragen zumeist zu einer Entkopplung zwischen Nutzen und Kosten bei. Dementsprechend lautet die Panazee hiergegen: Wer den Nutzen hat (z.B. die Provisionseinnahme für eine Beratung), muss auch die Kosten und Risiken tragen. Während wir noch nicht einmal befriedigend definieren können, was Gemeinwohl eigentlich sein soll, können wir nämlich sehr wohl erkennen, wo Nutzen und Kosten auseinander laufen, d.h. wo Externalisierung stattfindet. Denn wir können uns nämlich demokratisch auf gesellschaftliche Verhaltensstandards (hinsichtlich Lärm, Arbeitsschutz etc. etc.) einigen und eine Abweichung von diesen Standards (zu Lasten der Mitmenschen) sanktionieren. Da solche Standards das Verhältnis zwischen den Akteuren regeln, sind sie aber eben Sache des gesellschaftlichen Ordnungsrahmens, nicht des einzelnen Unternehmers.

Zudem hat ein Unternehmer jeden Tag tausende Entscheidungen zu treffen. Welche selektiert man bei der Bewertung nach der Gemeinwohlmatrix und warum? Und welche bleiben außen vor? Um an das oben genannte Haftungsbeispiel aufzugreifen: Hat die Sparda Bank München eG etwa keine Allgemeinen Geschäftsbedingungen, über die faktisch eine Haftungsverschiebung zu Lasten der Kunden stattfindet? Und ist die Eigenkapitalausstattung der gesamten Genossenschaftsgruppe angemessen, damit nicht der Steuerzahler am Ende haftet? Hält sie sich mit der Fristentransformation in einem vertretbaren Rahmen (was ist das?), so dass sie bei einer Änderung von Zinsniveau und Zinsstruktur nicht in eine Schieflage kommt und wieder dem Steuerzahler in die Arme fällt? Gibt die Gemeinwohlmatrix Anhaltspunkte für die Lösung all dieser Fragen? Für manche mag sie vielleicht eine Richtung weisen, viele bleiben aber unbeantwortet. Wir können die Entscheidung hierüber auch ruhig dem Bankvorstand überlassen. Unabhängig davon, an welchem Ethikrahmen sich der Bankvorstand orientiert: Wichtig ist, dass eine Fehlentscheidung – anders als heute – persönliche Konsequenzen für ihn haben kann. Die konsequente Verwirklichung dieses Prinzips in einem Ordnungsrahmen ist Ordnungspolitik.

Im Übrigen trägt die Gemeinwohlmatrix auch nicht dazu bei, Akteure von ethischen Dilemmata zu entlasten. Gerade trübt sich wieder einmal die Konjunktur ein. Aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive könnte es demnächst vielleicht wieder wünschenswert sein, dass die Sparda Bank München eG beispielsweise verstärkt Kredite zur Überbrückung von Liquiditätslücken im Mittelstand vergibt, die durch leere Auftragsbücher bedingt sind. Ist dies aber auch im Sinne der Einleger und der Steuerzahler, wenn die Bank durch eine solche Politik in eine Schieflage gerät? Was sagt die Gemeinwohlmatrix dazu? Nein, wir brauchen einen Ordnungsrahmen, der die einzelnen Akteure erst gar nicht in einen solchen Konflikt bringt. Ordnungspolitik hat nämlich auch die Funktion, Menschen von ethischen Dilemmata zu entlasten. Marktwirtschaft muss in Regeln münden, welche das eigennützige Verhalten der Akteure mit dem Gemeinwohl zusammenfallen lässt.

Dann braucht man weder ethische Apelle an die Unternehmensführung noch die Allgemeinverbindlicherklärung eines bestimmten Werterahmens für die Unternehmensführung. Ein Lump als Unternehmer muss aus Eigeninteresse genauso zu einem wie auch immer definierten Gemeinwohl beitragen wie ein Heiliger.

Andererseits ist auch für Felbers Welt anzunehmen, dass die Erträge aus der Externalisierung von Kosten oftmals diejenigen der Privilegien übersteigen werden, die über die GWÖ vergeben werden sollen. Positive Lenkungswirkungen stellen sich dann nicht ein. Doch Wirtschaft darf keine Exklusivveranstaltung für Heilige sein. Geeignete Institutionen müssen daher dazu dienen, Egoismen und Gemeinwohl zusammenfallen zu lassen (vgl. Smith 1776). Zugleich müssen sie aber auch Ethik aus den wirtschaftlichen Entscheidungen herausnehmen, und nicht im verstärkten Maße in diese hineinzutragen.

All dies kann am einfachsten erreicht werden, indem die Preise die wirklichen sozialen und ökologischen Kosten wiedergeben (Löhr 2013). Dann braucht man allerdings auch keine Zertifizierungsindustrie zur Abnahme der Gemeinwohlbilanz. Ein erheblicher Teil der Zertifizierungsindustrie gedeiht heutzutage auf dem giftigen Beet der Preislügen. Und eine Ausbreitung der Gemeinwohlökonomie würde nicht primär gegen das Problem der falschen Preise angehen, sondern die Zertifizierungsindustrie noch weiter aufblühen lassen.

Die Gemeinwohlökonomie nimmt zwar für sich in Anspruch, diese Aspekte nicht zu vergessen. Wenn dann aber gerade die potentiellen Protagonisten des gesellschaftlichen Wandels im Rahmen einer Erweiterung der Zertifizierungsindustrie von den falschen Preisen profitieren, zieht ein Interessenkonflikt ein. Die Korrumpierung der Hoffnungsträger droht, und der Widerstand gegen die Preislügen schwächt sich ab. Dann mutiert das „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ zur „guten Kraft, die Schlechtes schafft“.

 

Literatur und mehr Informationen:

Bossel, H. (1998): Globale Wende – Wege zu einem gesellschaftlichen und ökologischen Strukturwandel, München.

Eucken, W. (1990): Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Aufl., Tübingen.

Felber, C.  (2012): Die Gemeinwohl-Ökonomie: Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, Deuticke.

Fisher, I. (1935): 100% Money. Adelphi, New York.

George, H. (ca. 1885): Fortschritt und Armut, Halle a.d. Saale.

Gesell, S. (1949): Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld, 9. Aufl., Lauf bei Nürnberg.

Homepage Gemeinwohlökonomie: https://www.ecogood.org/was-ist-die-gemeinwohl-oekonomie

Löhr, D. (2013): Prinzip Rentenökonomie – wenn Eigentum zu Diebstahl wird, Marburg.

Smith, A.  (1776/2005): An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, W. Strahan and T. Cadell, London. Digitale Ausgabe von 2005. Online: http://www2.hn.psu.edu/faculty/jmanis/adam-smith/Wealth-Nations.pdf (eingesehen: Februar 2013).

 

Life below zero? Negativzinsen und Assetpreisinflation

Dirk Löhr

Zum ersten Mal diskutiert die Europäische Zentralbank die Gesellsche Geldreform – im Zusammenhang mit ihrer Niedrigzinspolitik, die nunmehr langsam an die Grenzen des Konventionellen stößt.

EZB: Neuer Bau, neue Ideen?
EZB: Neuer Bau, neue Ideen?

Die Rede von  Benoît Cœuré:

Life below zero: Learning about negative interest rates (bitte klicken)

markiert einen gedanklichen Fortschritt, den man beinahe historisch nennen mag.

Allerdings vermisst man Gedanken über das Zusammenspiel zwischen Geldumlaufsicherungsgebühr bzw. “Negativzins” und der Eigentumsordnung:

– Ist ein “Negativzins” bei einem positiven Eigenzinssatz (Keynes) von Land und Natur (im Privateigentum) überhaupt möglich? Oder stehen Arbitrageprozesse dagegen, die das Geld in Immobilien und Aktien schwappen lassen?

– Der Bodenwert ergibt sich näherungsweise aus der Bodenrente, dividiert durch den (Real-) Zinssatz; der Unternehmenswert aus der ökonomischen Rente des Unternehmens, dividiert durch den (Real-) Zinssatz. Welches sind die Auswirkungen einer “Negativzinspolitik” auf Assetpreisinflationen, v.a. auf den Immobilien- und Aktienmärkten? Kommt es zu einer Vermögenspreisexplosion, die z.B. Wohnen unerschwinglich werden lässt?

Eine Reform der Eigentumsordnung an Land und Ressourcen ist ohne eine Geldreform durchführbar. Umgekehrt gilt dies aber nicht ohne Weiteres. Wir können gespannt sein, ob die EZB den intellektuellen Mut aufbringt, die Entkapitalisierung von Land und Natur (und damit mittelbar auch von Aktiengesellschaften  etc., die im Wesen “Land Banks” sind) in die Diskussion zu bringen. Ein erster Schritt  wäre ein “Tax Shift” weg von den herkömmlichen Steuern hin zu einer Bodenwertsteuer,  die dann aber ein wesentlich höheres Gewicht als die heutige (vollkommen missratene) Grundsteuer haben müsste. Ein Vorschlag in diese Richtung kam u.a. sogar schon von der OECD; er sollte nicht in so weiter intellektueller Ferne liegen. Die in Deutschland anstehende Grundsteuerreform gäbe Gelegenheit, in diese Richtung voranzuschreiten (s. den Beitrag “Grundsteuerreform und Aufruf “Grundsteuer: Zeitgemäß!“). Zur Einführung einer EU-Bodenwertabgabe als eigenständige Finanzierungsquelle der EU-Administration und ihrer Regionalpolitik s. Ricardo und die Troika – für die Einführung einer EU-Bodenwertabgabe, in: Wirtschaftsdienst, Oktober 2013, S. 702-709.

 

 

Henry George und Silvio Gesell: Mit dem Zweiten sieht man besser – ein Appell an die Geld- und Zinskritiker

Dirk Löhr

Kein Theoretiker ist der liebe Gott. Jeder hat Stärken, jeder hat Schwächen. Es gilt, sich das Beste herauszunehmen und – zusammen mit den Gedanken anderer großer Geister – weiterzuentwickeln. Dies gilt auch für Silvio Gesell. Unter denjenigen, die sich ernsthaft mit ihm auseinandergesetzt haben (dies sind leider nicht besonders viele Fachökonomen), ist seine intellektuelle Leistung unbestritten. Kurz zusammengefasst, lauten seine Kernthesen: Aufgrund seiner besonderen Eigenschaften kann das derzeitige Geld in einen „Investitionsstreik“ treten, wenn es seine Zinsforderungen nicht mehr erfüllt bekommt (Gesell 1916). Die Untergrenze dieser Zinsforderungen ist der „Urzins“. Der berühmte englische Ökonom Keynes (1936) nahm den Gedanken auf und benannte diese Mindestforderung (für die Aufgabe von Liquidität) „Liquiditätsprämie“. Während Keynes jedoch diese Eigenschaften des Geldes grundsätzlich akzeptierte, wollte Gesell sie ändern. Im Zuge einer Geldreform sollte der Urzins neutralisiert und die Möglichkeit, Geld zurückzuhalten, über eine „Geldumlaufsicherungsgebühr“ beseitigt werden. Als Folge sollte sich das Geld- und Sachkapital so weit vermehren, bis seine Verzinsung gegen Null geht.

Folgt man dieser Auffassung, setzt der Geldkapitalzins auch die Untergrenze für den Unternehmensgewinn. Fällt der Geldkapitalzins bis gegen Null, beseitigt man nämlich gleichzeitig auch die leistungslosen Bestandteile des Unternehmensgewinnes. Die Eliminierung von Leistungsbestandteilen, wie den Unternehmerlohn oder die Prämie für das eingegangene Risiko, war hingegen nicht das Bestreben von Gesell. Weil sich je anscheinend das Problem des Unternehmergewinns „automatisch“ mit der Geldreform löst, gab es – von Einzelfällen abgesehen – beispielsweise auch niemals eine gemeinsame Sprachebene zwischen Zinskritikern und Gewerkschaftlern, zumal Letztere die Unternehmensgewinne vorrangig problematisierten.

Bei näherem Hinsehen hat die Theorie Gesells, der selber kein ausgebildeter Ökonom war, an dieser Stelle allerdings Lücken. Können wirklich die Unternehmensgewinne im Kern (wir sprechen nicht über Unternehmerlöhne und Risikoprämien) durch eine Vermehrung des Kapitals bis gegen Null zurückgeführt werden? In einem Konkurrenzmarkt (und auf diesen soll die vorliegende Darstellung der Kürze zu Liebe bezogen sein) werden die Marktpreise über die Grenzkosten des letzten Anbieters festgelegt (Grenzanbieter), der benötigt wird, um die Nachfrage zu befriedigen. Dieser Grenzanbieter produziert unter den ungünstigsten Bedingungen – er kann gerade noch seine Kosten decken, aber keine Gewinne mehr erwirtschaften. Er hat den ungünstigsten Standort, er verfügt mangels Zugang zu den Eigentumsrechten nicht über die effizientesten Technologien, er kontrolliert nicht die Ressourcenbasis, die er zur Produktion benötigt. Anders herum gibt es aber einen Vorsprung für all die Anbieter, die günstigere Standorte, Zugang zu den effizienten Technologien (Kraft geistiger Eigentumsrechte), Kontrolle über die Ressourcenbasis etc. ausüben. Dies sind die sog. „intramarginalen“ Anbieter. Diese verkaufen zwar ihre Produkte zu denselben Preisen wie die Grenzanbieter, können aber aufgrund von Kostenvorteilen entsprechend hohe Produzentenrenten einstreichen. Aus diesen Vorteilspositionen ergeben sich ökonomische (Differential-) Renten, die den Kern des Unternehmensgewinnes darstellen (Löhr 2013). Diese Privilegien werden zugleich durch die herrschende Eigentumsordnung zementiert (ein Umstand, den übrigens auch Franz Oppenheimer (1929) gesehen hatte, dessen 150. Geburtstag am 30. März 2014 jährt).

Der entscheidende Punkt: Allein über eine Vermehrung des Kapitals via Geldreform können diese abgesicherten Vorteile, die die ökonomischen Renten der intramarginalen Anbieter hervorbringen, nicht beseitigt werden. Der relative Vorteil der intramarginalen Unternehmen gegenüber den Grenzanbietern bleibt bestehen, und damit auch die ökonomischen Renten als Kern ihres Unternehmensgewinnes.

Diese ökonomischen Renten machen überhaupt erst den Wert eines Unternehmens aus. Schon die Methodik der Unternehmensbewertung gibt darüber Auskunft. Um den Marktwert des Eigenkapitals eines Unternehmens zu ermitteln, wird (vereinfacht anhand der Formel der „ewigen Rente“ dargestellt) der Unternehmensgewinn durch einen Kapitalisierungszinssatz dividiert. Zuvor rechnet man aber aus dem Unternehmensgewinn noch den Unternehmerlohn und andere Besonderheiten heraus, und der Diskontierungszinssatz wird „risikoäquivalent“ gemacht. Als ökonomische Essenz dieser Berechnung ergibt sich der Marktwert des Eigenkapitals „V“ aus den ökonomischen Renten „R“ (als „Sicherheitsäquivalente“, also ohne Risikobestandteile und auch ohne Unternehmerlöhne), die mit einem risikolosen Kapitalmarktzins „i“ diskontiert werden: V = R/i. Interessant dabei: Ein risikoloser und arbeitsloser Einkommensstrom (z.B. Zinsen aus einer Bundesanleihe) wird mit einem anderen  risikolosen und arbeitslosen Einkommensstrom (Renten aus dem Unternehmen) verglichen bzw. mit diesem getauscht.

Weil der Marktwert des Eigenkapitals „V“ daher nichts anderes als der Wert der aus dem Unternehmen fließenden ökonomischen Renten ist, sind Grenzanbieter insoweit ökonomisch ziemlich wertlos. Niemand würde für ein Unternehmen auch nur einen müden Cent bezahlen, dessen Ertragskraft alleine auf der Arbeitskraft des Inhabers beruht.

Und: Wenn sich der Marktwert des Eigenkapitals „V“ aus den diskontierten Renten ergibt, finanziert umgekehrt auch das Eigenkapital die Renten tragenden Vermögensgegenstände. Renten tragende Vermögensgegenstände sind aber regelmäßig nichts anderes als „Land“ in dem weiten Sinne, in dem die ökonomischen Klassiker und Henry George (1885) diesen Begriff verstanden. Kurz gesagt: Während Fremdkapital den Faktor Kapital im Unternehmen finanziert, deckt das Eigenkapital den Faktor Land ab. Hinzu kommen noch die Kriegskasse sowie Beteiligungen an anderen Unternehmen, die letztlich aber nichts anderes als „indirekte“ Investitionen in deren Land (das Eigenkapital anderer Unternehmen) sind. Die statistischen Belege hierfür sind erdrückend, wie ich u.a. im Buch „Prinzip Rentenökonomie: Wenn Eigentum zu Diebstahl wird“ dargestellt habe (Löhr 2013). Beispielhaft ist – als eines von vielen Indizien – unten zur Illustration die auf S. 113 des Buches dargestellte Strukturbilanz kompakt wiedergegeben, die auf Daten der Bundesbank von ca. 48.000 Unternehmen beruht.

Aktiva: Mittelverwendung Passiva: Mittelherkunft
Rententragende Vermögensgegenstände (29,0 %): Faktor „Land“ i.w.S. (plus Cash und Beteiligungen) Eigenkapital (29,3 %):
Ök. Renten (plus Unternehmerlöhne und Risikoprämien)
Faktor „Kapital“ wie Maschinen, Fabriken, Vorräte etc. ( 71,0 %) Fremdkapital: Zinsen (70,7 %).

Strukturbilanz deutscher Unternehmen (basierend auf dem HGB)

Man sieht, dass der Buchwert des Eigenkapitals im Durchschnitt dem Buchwert der Renten tragenden Vermögenswerte entspricht (rd. 29 %).

Nun war Silvio Gesell ja auch ein Bodenreformer. Die dargestellte Perspektive – die den Produktionsfaktor Land und Eigenkapital im Zusammenhang sieht, war ihm aber fremd. Dementsprechend wurden auch die Rolle des Landes in den Bilanzen der Unternehmen und die Bedeutung der ökonomischen Renten in den Unternehmensgewinnen nicht weiter herausgearbeitet. Hier kann man von den zeitgenössischen Anhängern Henry Georges lernen, die Unternehmen als „Land Banks“ begreifen (z.B. Dwyer 2003). Unternehmen produzieren nicht losgelöst von Materie und Raum. Sie brauchen zur Produktion nicht nur Standorte, sondern auch Ressourcen (z.B. Öl und Gas), das elektromagnetische Spektrum, Start- und Landerechte, Deponien und Senken (z.B. aus der Versteigerung von CO2-Zertifikaten) etc. etc. – alles „Land“ im Sinne von Henry George (1885), der den Weg für die Betrachtung von Unternehmen als “Land Banks” geebnet hatte. Nicht zu vergessen auch die Patente, die dem Privateigentum an Grund und Boden nachgeäfft sind (Löhr 2013).

Allerdings muss man sich schon eine spezielle Brille aufsetzen, um dies aus den Unternehmensbilanzen herauszulesen. Der Wert des Landes kommt nämlich in den Unternehmensbilanzen nicht unbedingt zum Ausdruck. Das Rechnungswesen beruht auf Konventionen, und diese Konventionen reflektieren den diesbezüglich rudimentären Stand der Wirtschaftswissenschaften. Im deutschen Handelsrecht wird z.B. Land mit seinen historischen Anschaffungskosten dargestellt, die oft noch subventioniert sind. Oder: Die Erträge aus Privilegien werden oftmals Positionen wie v.a. dem “Geschäfts- und Firmenwert“ gutgeschrieben, weil auch die zeitgenössische Betriebswirtschaft nicht in der Lage ist, die ursächlichen Renten tragenden Assets zu identifizieren.

Diese spezielle Brille ist jedoch für Geldreformer und Zinskritiker wichtig und interessant. Betrachtet man Unternehmen nämlich wesentlich als „Land Banks“ und sind Zinsen und Renten als arbeits- und risikolose Einkommensströme gegeneinander austauschbar (weil Arbitragebeziehungen bestehen), können Gesells Ziele durch eine pure, unflankierte Geldreform gar nicht erreicht werden. Werfen Unternehmen, Land an sich und Ressourcen ökonomische Renten ab, wird nämlich Geld aus Sachinvestitionen in die rententragenden Assets abgelenkt. Der erwünschte Druck auf den Zins kann dann also nicht in der erhofften Weise entstehen. Hierauf wies z.B. auch bereits Maurice Allais (1947) hin. Man konnte diese Effekte übrigens wunderbar in der Praxis beobachten – z.B. in der Zeit der amerikanischen Niedrigzinspolitik (vor 10 Jahren unter Greenspan). Der Verfasser durfte hautnah dieselben und ähnliche Effekte im dollarisierten Kambodscha miterleben (Löhr 2011), wo es ebenfalls zu einer Blasenbildung auf den Bodenmärkten kam. Dort wurden nicht selten produktive Investitionen nicht mehr durch Banken finanziert, wohl aber Landspekulationen, weil diese höhere Renditen brachten.

Ohne eine Abschöpfung der ökonomischen Renten ist daher ein Nullzins unmöglich (Löhr 2009). Und dabei geht es nicht nur um Grund und Boden im engen Sinne, sondern um Land im weiten Sinne – so wie es v.a. für Unternehmen von Bedeutung ist. Umgekehrt wird sich mit einer Abschöpfung der Renten die Finanzierung der Unternehmen radikal verändern: Weg vom Eigenkapital (das heutzutage rententragende Vermögensgegenstände finanziert), hin zur Finanzierung über Schulden. Und dann wäre es gut, wenn diese Schulden grundsätzlich zinslos wären. Zwar würde es immer noch Eigenkapital geben, aber nur in der Funktion als Risikopuffer.

Ungeachtet seiner großartigen Leistung hatte Gesell (1916) viele dieser Zusammenhänge nicht sauber analysiert. Andererseits wird dieser Mangel teilweise dadurch geheilt, dass er prinzipiell sämtliche Vorrechte in der Wirtschaft abschaffen wollte – und hier ging er mit seinen Absichten über die alleinige Abschaffung des Eigentums an Grund und Boden weit hinaus. Diesbezüglich war er auch wesentlich konsequenter als Henry George (1885). Dessen Anliegen war die radikale Abschöpfung der (Boden-) Renten. Als Mittel schlug er eine Single Tax vor und knüpfte insoweit an die Lehren der Physiokraten (impot unique) an. Eigentlich sollte allein deswegen schon auf der Hand liegen, dass George hervorragend zu der sich selbst zeitweise als „Neophysiokraten“ apostrophierenden Freiwirtschaftsbewegung passt und diese ergänzt.

George hatte zudem – anders als Gesell (der die Bodenrenten den Müttern zuführen wollte) – ganz klar den Zusammenhang zwischen der Privatisierung der Bodenrenten und der Steuerfinanzierung des Staates gesehen. Zudem hatte er schon die immensen umverteilenden Wirkungen des heutigen Steuerstaates im Blick: Eigentlich würden nämlich alleine die Bodenrenten (in ihrer engen, nur auf Grund und Boden bezogenen Form) völlig ausreichen, um den Staat vollkommen zu finanzieren. Dies wurde in den letzten Jahrzehnten durch Arnott/Stiglitz (1979), Vickrey (1977) und andere namhafte Autoren über die Formulierung des Henry George-Theorems bestätigt. Werden die Bodenrenten aber privatisiert, stehen sie nicht zur Finanzierung des Staates zur Verfügung. Der Staat muss dann auf Steuern zur Finanzierung des Gemeinwesens zurückgreifen. Die hiermit geschaffenen „public goods“ setzen wiederum Grund und Boden in Wert – das sich aber in Privateigentum befindet. Die dann erhöhte Bodenrente wird aber wieder privatisiert. Als Steuer zahlender Mieter und Konsument wird der Bürger daher doppelt gemolken, einmal in Form der privatisierten (Boden-) Renten (auch in den Produktpreisen) und zweitens über die Steuern, die hierzulande v.a. auf der Arbeit lasten. Leider ist die betreffende Diskussion an Deutschland größtenteils vorbeigegangen, obwohl das Hauptwerk von Henry George mit weit mehr als drei Millionen verkauften Exemplaren das meist verkaufte ökonomische Buch überhaupt sein dürfte.

Positiv zu bewerten ist allerdings, dass Seitens der Freiwirtschaft seit einiger Zeit – leider eher als Randthema – das ressourcenbasierte Grundeinkommen diskutiert und damit die Gesell’sche Idee der Mütterrente verlassen wird (Schreiber-Martens 2007). Das Konzept des ressourcenbasierten Grundeinkommens ist durchaus mit Henry George kompatibel und wird auch von Teilen dessen Anhängerschaft vertreten. Würden die ökonomischen Renten abgeschöpft, so könnte nach Abdeckung der Fixkosten der zu staatlicherseits zu planenden öffentlichen Infrastruktur der verbleibende Teil der Renten als Grundeinkommen wieder an die Bürger ausgeschüttet werden. Hierüber könnte der Zugang zu öffentlichen Leistungen und zur Mobilität garantiert werden. Beides könnte den Bürgern zugleich – volkswirtschaftlich effizient – zu Grenzkostenpreisen angeboten werden. Dieses Konzept koppelt in effizienter Weise Nutzen und Lasten der Staatsfinanzierung und hat daher nichts mit dem Konzept von Götz Werner (2008) zu tun, der gerade das Gegenteil anstrebt.

Wir haben also ein interessantes Puzzle, dessen Teile sich perfekt ineinander fügen lassen. George hatte Geld und Kapital sowie die Bedeutung des Eigentums nur unvollständig auf dem Schirm. Gesell thematisierte zwar das Thema Eigentum und Vorrechte, war bei der Rentenproblematik jedoch auf halbem Wege stehen geblieben und hatte die Steuerproblematik und dessen desaströse Wirkungen auf Effizienz (steuerliche Entmutigungseffekte etc.) und Verteilung überhaupt nicht hiermit in Zusammenhang gebracht. Die Themen der Unternehmergewinne, der Grenzkostenpreise für öffentliche Güter und der Rückverteilung wurden erst durch konsequentes Weiterdenken der Anhängerschaft von Henry George entwickelt. Das Henry George-Theorem wurde sogar von orthodoxen Ökonomen entwickelt – die Logik war zu „aufdringlich“.

Sowohl Gesell wie George haben Großes geleistet. Beide sind zwar unvollständig, ergänzen sich jedoch hervorragend. Und mit dem Zweiten sieht man entschieden besser. Ich möchte daher die Anhänger der Freiwirtschaft ermuntern, ein paar Meter vom Bild zurückzutreten und mit beiden Augen noch einmal draufzugucken: Es wäre m.E. angemessen, weniger Energie auf Details wie die Frage der Geldschöpfung zu richten (zumal sich die Diskussion ohnehin seit vielen Jahren im Kreise dreht und sich sowohl von Fachwissenschaftlern wie auch normalen Bürgern abgekoppelt hat) und statt dessen den Blick auf das große Ganze zu richten. An bedeutsamen Teilen der Baustelle herrscht nämlich seit geraumer Zeit Stillstand – zumindest im deutschen Sprachraum. Ohne das Thema Geld und Zins aus den Augen zu verlieren, besteht angesichts von Auswüchsen in Politikbereichen wie Freihandelsabkommen, Gentechnik, Public Private Partnerships, ausländischen Investitionen in Farmland etc. etc. die Notwendigkeit, auch hier theoretisch runde Positionen zu beziehen und unter das Volk zu bringen.

Literatur:

Allais, M. (1947). Economie et Interet, Paris.

Arnott, R. J. and Stiglitz, J. E. (1979), Aggregate Land Rents, Expenditure on Public Goods, and Optimal City Size. In: Quarterly Journal of Economics 93, S. 471-500.

Dwyer, T. (2003): The taxable capacity of Australian land, in: Australian Tax Forum 18, S. 21-67.

George, H. (ca. 1885): Fortschritt und Armut, Halle a.d. Saale.

Gesell, S. (1916): Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld, 9. Auflage, Lauf bei Nürnberg 1949.

J. M. Keynes (1936): Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, 6. Aufl. (unveränderter Nachdruck der ersten Auflage), Berlin 1983.

Löhr, D. (2009): Geldreform ohne Reform der Bodenordnung?, in: Humane Wirtschaft 6, S. 18-24.

Löhr, D. (2011): The Cambodian Land Market: Development, Aberrations, and Perspectives, in: Asien, Juli-Ausgabe, S. 28-47.

Löhr, D. (2013). Prinzip Rentenökonomie: Wenn Eigentum zu Diebstahl wird, Marburg.

Oppenheimer, F. (1929): Der Staat, 3. Überarbeitete Auflage, Berlin 1990. Online: http://www.franz-oppenheimer.de/staat0.htm

Schreiber-Martens, A. (2007): Ein Grundeinkommen für alle aus Abgaben für die Nutzung der Naturressourcen, in: Zeitschrift für Sozialökonomie, S. 27-32. Online: http://www.sozialoekonomie-online.de/ZfSO-154_Schreiber-M.pdf

Vickrey, W. (1977): The City as a Firm. In: Feldstein, M. and Inman, R. (Eds.): The Economics of Public Services, Macmillan, London, S. 334-343.

Werner, G. (2008): Einkommen für alle, Köln.