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Unwort des Monats: “Netzneutralität”

Dirk Löhr

Eine Szene auf der Autobahn: Berufsverkehr. Und mit diesem steht auch ein Urlauber mit Sonnenhut auf dem Kopf und Surfboard auf dem Dach im Stau. Neben ihm ein Rettungsfahrzeug mit Blaulicht (in dem gerade ein Patient verreckt, weil er nicht mehr rechtzeitig in ein Krankenhaus eingeliefert werden kann). Außerdem ein Abschleppfahrzeug, das nicht durchkommt, um ein liegengebliebenes Fahrzeug (das den Stau verursachte) von der Straße zu nehmen. Bezogen auf das Autobahnnetz, ist das ist “Netzneutralität” in seiner reinen Form.

Theoretisch könnte man die Autobahn auf sechs Spuren ausbauen, so dass ein solcher Engpass niemals entstehen kann. Das ist aber aus verschiedenen – v.a. ökonomischen – Gründen unvernünftig. Es reicht eine Dimensionierung derart aus, dass permanente Staus (also strukturelle Engpässe) vermieden werden. Dennoch wird es auch dann zu temporären Engpässen kommen.

Mit anderen Netzen sieht es grundsätzlich nicht anders aus, auch nicht mit dem Internet. Beispielsweise sind medizinische Operationen in der Zukunft verstärkt auf das Internet angewiesen. Netzneutralität: Ein Patient verreckt, weil der Youngster mit seinem datenintensiven interaktiven Ballerspiel dieselbe Priorität wie die Operation bekommt. Einem Unternehmen entgeht ein Auftrag, weil es die Datenübertragungen nicht mit der erforderlichen Geschwindigkeit im Netz abwickeln kann. Mitarbeiter werden entlassen.

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Quelle: Heise

Im Beispiel bremst der Youngster mit seinem Ballerspiel essentielle Datenflüsse aus und erzeugt damit externe Kosten. Genauso, wie der Urlauber im Stau (Beispiel oben) ebenfalls dringlichere Transportleistungen behindert. Wenn die Verursacher dieser externen Kosten zur Kasse gebeten und auf andere Fahrspuren, Wege oder Tageszeiten abgelenkt werden, kommt dies allen zugute. In der Terminologie der Ökonomen: Es entstehen negative Zusatzlasten.

In der Internet-Community wird dennoch Netzneutralität als „hip“ angesehen. Die Debatte um die Netzneutralität wird dabei v.a. als Gerechtigkeitsdebatte geführt. Der Wissenschaftliche Beirat im BMWi formuliert es im Gutachten „Engpassbasierte Nutzerfinanzierung und Infrastrukturinvestitionen in Netzsektoren“ (erschienen im September 2014) folgendermaßen (S. 16): „Gleichbehandlung aller Datenpakete erscheint als Gerechtigkeitspostulat. Dahinter steht auch die Vorstellung, dass Datenpakete, die bei differenzierter Übertragung nachrangig behandelt würden, vor allem bei Diensten anfallen, die von einem großen Teil der Bevölkerung genutzt werden (z.B. E-Mail), dass Datenpakete, die vorrangig behandelt würden, dagegen vor allem bei Diensten anfallen, die nur von einem kleineren Teil der Bevölkerung oder von Unternehmen genutzt werden. Diese Vorstellung ist falsch.“ Falsch, weil von der bevorzugten Behandlung bestimmter Datenpakete eben auch alle profitieren können, wenn man das Regime richtig gestaltet.

Natürlich ist die Befürchtung ernst zu nehmen, dass eine „Schnellfahrspur“ im Internet, auf der sich u.a. zahlungskräftige Kunden bevorzugt bewegen, ein Mehrklassen-Internet schaffen könnte. Ob es tatsächlich dazu kommt, hängt allerdings von der konkreten Ausgestaltung des Regimes ab. So könnten beispielsweise die Kosten aller Internetnutzer sinken, wenn über die Gebühren der „Schnellfahrer“  diejenigen der anderen Teilnehmer reduziert werden. Ein Teil der Gebühren der „Schnellfahrer“ könnte sogar ein Grundeinkommen speisen – dann fließt es an diejenigen, die auf die „Vorfahrt“ verzichtet haben. So weit geht die Diskussion um die Netzneutralität aber nicht.

Bei der Landnutzung wird im Übrigen auch der Begriff der Neutralität bemüht – hier geht es um „Planungsneutralität“. Die Zuweisung verschiedener Nutzungen soll nicht in einer Weise geschehen, die bestimmte Gruppen als solche systematisch bevorzugt. Dennoch muss auch hier zugunsten des Gemeinschaftsinteresses regulierend eingegriffen werden. Insbesondere darf auch die allokative Funktion von Knappheitspreisen (also der Bodenrente) genauso wenig außer Kraft gesetzt werden, wie bei der Netzinfrastruktur die Renten aus temporären Engpässen. Wie auch bei Netzengpässen heißt dies aber nicht notwendigerweise, dass die betreffenden Renten in private Schatullen fließen müssen.

Wissenschaftlicher Beirat: Finanzierung von Infrastrukturinvestitionen

Dirk Löhr

Leider von der Öffentlichkeit wenig beachtet, wurde im letzten Herbst (26.09.2014) vom Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) ein Gutachten zur

Engpassbasierte Nutzerfinanzierung und Infrastrukturinvestitionen in Netzsektoren (bitte klicken)

erstellt. Grund für uns, noch einmal auf diese Stellungnahme hinzuweisen.

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Um die Übernutzung der Netze einzudämmen, empfiehlt der Beirat den Einsatz von auslastungs-abhängigen Nutzungsentgelten. Im Einzelnen gelangen die Autoren zu folgenden Schlussfolgerungen für die Sektoren Verkehr, Energie und Telekommunikation:

  • Im Straßenverkehr ist die Einführung einer auslastungsabhängigen Straßenmaut für LKW und PKW zu prüfen. Im Gegensatz zur derzeit diskutierten Vignettenlösung könnte eine auslastungsabhängige Maut einen wesentlichen Beitrag zur effizienteren Nutzung der Kapazitäten im Verkehrssektor leisten.
  • Im Stromnetz sind die Voraussetzungen für die Verwendung auslastungsabhängiger Netznutzungsentgelte zu schaffen. Solch differenzierte Entgelte signalisieren den Marktteilnehmern, sich in Produktion und Verbrauch an die Kosten der Netzengpässe anzupassen. Langfristig geben sie Anreize für eine effiziente Ansiedlung von Kraftwerken.
  • Im Telekommunikationsnetz sollen Qualitätsunterschiede in der Datenübertragung nicht beschränkt werden. Eine damit einhergehende Preisdifferenzierung von Anwendungsdiensten hinsichtlich ihrer Übertragungsqualität ermöglicht neue Geschäftsmodelle und Dienstleistungen.

Trotz grundsätzlicher Zustimmung sind ein paar kritische Anmerkungen angebracht:

  • Der Tenor der Vorschläge der Autoren ist grundsätzlich gut und richtig. Auch in diesem Blog haben wir immer wieder dieselbe Linie vertreten. Allerdings handelt es sich um die Konzepte um “alte Hüte”. V.a. der von mir geschätzte William Vickrey hat darauf frühzeitig und immer wieder aufmerksam gemacht (z.B. Congestion Carges and Welfare, Journal of Transport Economics and Policy 2, 1968). Es stimmt traurig, dass dieses Konzept noch nicht in der Politik angekommen ist – umso wichtiger ist die Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirates.
  • Das zweite große Potential der Infrastrukturfinanzierung, die Bodenrenten, wird im Gutachten leider mit keinem Wort erwähnt. U.a. haben Arnott und Stiglitz (1979) dargestellt, dass eine auskömmliche Infrastrukturfinanzierung allein durch Nutzungsentgelte nicht darzustellen ist.  In diesem Blog wurde immer wieder die Bedeutung des Henry George-Theorems hervorgehoben (Löhr 2013).
  • Hierzu hätte man freilich auch die Eigentumsfrage stellen müssen, und zwar sowohl an Grund und Boden sowie an der Netzinfrastruktur. Wenn sich die Infrastruktur in privatem Eigentum befindet, fließt ein beträchtlicher Teil eingenommenen „Stauentgelte“ eben nicht wieder in ihre Instandhaltung und ihren Ausbau zurück, sondern wird an die Eigentümer ausgeschüttet. Zudem besteht ein Anreiz, Netzengpässe überflüssigerweise aufrecht zu erhalten, um aus einer Monopolposition heraus abzukassieren.
  • Bei Netzinfrastrukturen handelt es sich regelmäßig um natürliche Monopole, die allein aus diesem Grunde schon nicht in private Hand gehören – das ist keinesfalls eine bolschewistische Behauptung. Im Gutachten wurde das private Eigentum an natürlichen Monopolen hingegen offenbar als gottgegeben hingenommen.
  • In diesem Kontext ist noch ein Hinweis an die einschlägige Community (nicht an den Wissenschaftlichen Beirat) angebracht: Der Begriff “Netzneutralität” könnte eine ganz andere Bedeutung gewinnen, als sie ihm von der Community gegeben wurde (es handelt sich um einen heißen Kandidaten für unser nächstes “Unwort des Monats”). Der Begriff “Netzneutralität” sollte nämlich besser – analog zur “Planungsneutralität” bei Land – im Sinne einer gemeinwohlorientierten Planung und eines gemeinwohlorientierten Ausbaus des Netzes belegt werden.
  • Die Problematik Vollkosten- vs. Grenzkostenfinanzierung wurde im Gutachten ebenfalls nicht angesprochen. Ein auslastungsabhängiges Nutzungsentgelt darf nur die Ballungskosten und u.U. die sonstigen variablen Kosten erfassen (also die durch die Aktivitäten der Nutzer ausgelösten Grenzkosten), nicht aber die Fixkosten. Damit sind wir wieder beim o.a. Henry George-Theorem.
  • Schließlich würde die von den Autoren zitierte Elinor Ostrom (1999) wahrscheinlich mit turbinenhafter Geschwindigkeit im Grab rotieren, wenn sie von der undifferenzierten Gleichsetzung von Allmenden und Open Access noch etwas mitbekäme, die in dem Gutachten vorgenommen wird. Ostrom war es gerade ein Anliegen zu zeigen, dass bei Allmenden keine Übernutzung eintreten muss, wenn Ausschlüsse hergestellt werden. Sogar Hardin, der mit seinem berühmten Artikel (The Tragedy of the Commons, Science, Vol. 162, 1968) diese ideologisch gut nutzbare sprachliche Verwirrung ausgelöst hat, bedauerte dies später.

Trotz der genannten Kritikpunkte ist die Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirates verdienstvoll. In einem Blog der FAZ mit einem Artikel vom 20. Febraur finden sich auch für den Laien leicht lesbare Ausführungen hierzu

Vorfahrt für Wettbewerb in unseren Netzen (bitte klicken)

 

Mehr Information:

Arnott, R. J.  / Stiglitz, J. E. (1979): Aggregate Land Rents, Expenditure on Public Goods, and Optimal City Size, in: Quarterly Journal of Economics, Vol. 93 No. 4, S. 471-500.

Hardin, G. (1968): The Tragedy of the Commons, in: Science, Vol. 162, No. 3859, Dec. 13, 1968, S. 1243-1248.

Löhr, D. (2013): Prinzip Rentenökonomie: Wenn Eigentum zu Diebstahl wird, Marburg. Online: http://www.metropolis-verlag.de/Prinzip-Rentenoekonomie/1013/book.do

Ostrom, E. (1999): Die Verfassung der Allmende – Jenseits von Staat und Markt, Tübingen.

Vickrey, W. (1968): Congestion Carges and Welfare, in: Journal of Transport Economics and Policy 2, S. 107-118.