Dirk Löhr
Mehr Wohlstand durch Freihandel? Oder eine Wirtschafts-NATO zugunsten weniger starker Konzerne? Worum geht es beim transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP (“Transatlantic Trade and Investment Partnership”)? Ist die Kritik hieran das Produkt einer öffentlichen Hysterie, oder ist mehr daran?
Die Befürworter versuchen zunächst, wie üblich mit der Mittelstandskarte zu stechen (cgl. Ries, o.J.): Große Konzerne produzieren und vertreiben auf beiden Seiten des Atlantiks – anders als Mittelständler. Letztere bräuchten ein Freihandelsabkommen dringender als Erstere. Es geht aber noch um mehr: Dass Freihandel Wohlstand fördern und Arbeitsplätze schaffen kann, ist weitgehend Konsens.
Allerdings gilt dies nur unter bestimmten Voraussetzungen. Und: Tarifäre Handelshemmnisse, also Zollbarrieren, spielen ohnehin bereits eine geringe Rolle im transatlantischen Handel. Lediglich vier bis sieben Prozent des transatlantischen Handels sind mit Zöllen belastet (Ries, o.J.). Entsprechend monieren die Kritiker, dass die quantitativen Effekte (Einkommenserhöhungen und geschaffene Arbeitsplätze) überschaubar sein dürften. Der transatlantische Handel funktioniere nämlich bereits ohne größere Reibungsverluste.
Um was es beim TTIP viel mehr geht, ist der Abbau nicht tarifärer Handelshemmnisse. Diese kommen durch unterschiedliche Regulierungen im europäischen und amerikanischen Wirtschaftsraum zustande. Viele dieser Regulierungen haben Gesundheitsstandards, Lebensmittelgesetze oder Umwelt- und Sozialstandards zum Gegenstand. All dies ist in Europa in der Regel strenger geregelt als in den USA (Piper / Hagelüken 2014). Das Spielfeld soll nun durch das TTIP weniger schief gestaltet werden. Dabei gibt es aber drei Möglichkeiten: Die höheren europäischen Anforderungen absenken oder die geringeren amerikanischen Anforderungen erhöhen; möglicherweise auch eine Kombination aus Beidem.
Welcher Weg wird also gewählt? Und: „Cui bono?“ – also: wem nutzt das Ganze? Auch diese Frage muss erlaubt sein. Wir befinden uns ja in einer Demokratie.
Und da stimmt es zunächst bedenklich, dass die Verhandlungen um das TTIP im Geheimen stattfinden. Lobbyisten haben Zugang, keine Journalisten und keine Volksvertreter. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Möchte man Konsumenten und Arbeitnehmer etwa zu Ostern angenehm mit einem hohen transatlantischen Umwelt- und Verbraucherschutz überraschen? Man muss wohl ziemlich blond sein, um so etwas anzunehmen. Das Ei, das da dem Verbraucher in den Korb gelegt werden soll, sieht wohl ganz anders aus. Hinter verschlossenen Türen wird da wohl eher eine Orgie der Abwälzung von Umwelt- und Sozialkosten zu Lasten schwach organisierter Gruppen ausgemauschelt. Solche schwach organisierten Gruppen sind z.B. die Verbraucher. Und den Spass an dieser Orgie sollen stark organisierte Gruppen haben. Und dies sind am wenigsten die von den Befürworten genannten mittelständischen Unternehmen. Die Türe für genveränderte Organismen würden wohl weiter geöffnet. Monsanto & Co. stehen schon mit feuchtem Schritt in den Startlöchern – nicht gerade die typischen Mittelständler.
Tritt das TTIP so in Kraft, wie es offenbar gerade ausgemauschelt wird (Genaues weiß man wegen des Mangels an Öffentlichkeit nicht), können sich beispielsweise amerikanische Fleischkonzerne mit ihren Chlorhühnern, die derzeit in Europa aufgrund der strengeren Hygiene-Standards verboten sind, in den europäischen Markt einklagen. Würden nämlich die “überzogenen” europäischen Standards nicht gelockert, stellten sie ein Chlorhuhn-Investitionshemmnis dar. Möglicherweise bedarf es bei dem einen oder anderen Volksvertreter in Europa erst des Verzehrs eines Chlorhühnchens, damit ein Licht aufgeht. Die Bremse zu ziehen wird dann allerdings schwierig. Will sich ein Staat auf stur stellen und weigert sich, seine Standards zu senken, werden Streitigkeiten nicht etwa in öffentlich zugänglichen Gerichtsverfahren ausgetragen. Zuständig ist vielmehr ein im Rahmen des Freihandelsabkommens organisiertes, von der Weltbank beaufsichtigtes Tribunal. Die Mitglieder dieses Tribunals sind Unternehmen und Staaten, vertreten durch internationale Anwaltskanzleien. Heute befinden sie sich in der Rolle der des Klägers, morgen in der des Verteidigers, übermorgen sind sie Richter. Entscheidet das Tribunal gegen den renitenten Staat, so wird dieser gezwungen, seine Standards entsprechend herabzusetzen bzw. seine Märkte zu öffnen. Oder aber millionenschwere Entschädigungen zu zahlen – auf Kosten des Steuerzahlers. Und der Grundsatz der Verfahrensöffentlichkeit: Fehlanzeige, obwohl eigentlich jeder einzelne Bürger elementar betroffen ist. Die Mauschelei hinter verschlossenen Türen wird also nach abgeschlossener Verhandlung des TTIP nicht aufhören, sondern sich während seiner Umsetzung perpetuieren. Was hätte wohl der alte Kant hierzu gesagt? Er hätte mit seiner Publizitäts-These (1795) dagegengehalten: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publicität verträgt, sind Unrecht” (Mohrs 2014). Snowden sei Dank haben zwar offenbar derzeit die Verhandlungen rund um das Investitionsschutzabkommen an Fahrt verloren, doch vom Tisch ist das Thema längst nicht.
Bedenklich stimmt weiter, wie der Wille des Volkes durch seine politischen Vertreter zum Ausdruck gebracht wird: Nämlich gar nicht. Was die Öffnung der Türen für genveränderte Organismen angeht, die wir gerade mit der Einführung der Genmaissorte 1507 in Europa erleben (s. den Blogbeitrag „Genmais und Demokratie“), so will die erschlagende Mehrheit von 88 % der deutschen Bevölkerung dies nicht. Und man kann genauso davon ausgehen, dass dieselbe Mehrheit nicht auf Chlorhühner und aufgeweichte Sozialstandards steht. Wessen Willen wird hier durch die Bundesregierung und die EU-Kommission umgesetzt? Ist der Souverän das deutsche Volk, oder ist es Monsanto, Pioneer, Syngentha, BASF & Co.? Die willfährige Ausführung von Interessen einer mächtigen Lobby ist ein latenter Skandal, da das politische System hierdurch von Grund auf korrumpiert wird. Nötig wäre eine Bannmeile: Lobbyisten sollten sich nicht mehr um den Bundestag und den Bundesrat herum blicken lassen dürfen, und die Beeinflussung von Politikern außerhalb eines für die Öffentlichkeit transparenten Verfahrens sollte unter Strafe gestellt werden.
Schließlich ist auch bedenklich, dass Europa mit der „Wirtschafts-NATO“ TTIP die US-amerikanische „teile-und-herrsche“-Politik aktiv unterstützt. Dieses Muster zog sich in der neueren Geschichte zwar schon immer durch die US-amerikanische Politik, nimmt aber deutlichere Konturen an, seitdem sich die Supermacht auf dem absteigenden Ast befindet. Sie verabschiedet sich zunehmend aus multilateralen Arrangements und Institutionen (erkennt den internationalen Strafgerichtshof nicht an, zahlt die Beiträge für die UN-Mitgliedschaft nicht etc. etc.). In früheren Zeiten stützten die USA jedoch wenigstens die Welthandelsorganisation (WTO) – jedenfalls, solange diese für sie nützlich war. Doch diese Zeiten sind vorbei: Die USA setzen auch in Bezug auf Freihandel zunehmend auf Bilateralismus (was sich schon im Rahmen des nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA abzeichnete). Dabei hat die WTO doch den Freihandel ganz groß auf ihre Fahnen geschrieben. Aber: Sie passt als multilaterale Organisation – deren Regeln sich auch die USA unterwerfen müssen – nicht in die „teile-und-herrsche“-Strategie der Amerikaner.
Doch auch NGOs, Umweltschützer und Gewerkschaften mögen die WTO nicht. Der Grund: „Schiefe Handelsplattformen“ aufgrund von Unterschieden in Umwelt- und Sozialstandards werden in der WTO grundsätzlich übersehen. Die Durchsetzung von Umwelt- und Sozialstandards wird leicht als nicht tarifäres Handelshemmnis qualifiziert, folglich ist Umwelt- und Sozialdumping im internationeln Handel eher die Regel als die Ausnahme. Unter diesen Umständen verliert die Freihandelsidee einiges von ihrem Glanz. Dennoch: Die Welthandelsorganisation ist die einzige internationale Organisation mit Sanktionsgewalt. Anstatt die WTO in Bausch und Bogen zu verdammen, bräuchte die deutsche Bundesregierung wie die EU-Kommission einen ordentlichen Stoß in den Rücken, um innerhalb der WTO endlich die Probleme des Umwelt- und Sozialdumpings auf die Tagesordnung zu bringen. Das nötige Gewicht hierzu hätte Europa. Allerdings fehlt bislang der politische Wille – lebte man doch bislang glänzend auf Kosten der Opfer des Umwelt- und Sozialdumping. Umso mehr wäre die Durchsetzung entsprechender Standards in der WTO wesentlicher Schritt, um Globalisierung umwelt- und sozialgerecht zu gestalten – mit der „Wirtschafts-NATO“ geht es hingegen mit voller Fahrt in die Sackgasse.
Mehr Informationen:
Piper, N. / Hagelüken, A. (2014): Freihandelsabkommen TTIP: Feuer unter Freunden, in: Sueddetusche.de vom 4.2. Online: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/freihandelsabkommen-ttip-feuer-unter-freunden-1.1879211
Ries, C. (o.J.): TAFTA: SMWs would benefit greatly, in: International Trade News. Online: http://www.internationaltradenews.com/en/articles/24000/TAFTA-Mittelstand-wuerde-stark-profitieren.html
Mohrs, T. (2014): Kant nennt es Unrecht, in: Passauer Neue Presse vom 11.2. Online: http://www.pnp.de/nachrichten/kultur_und_panorama/kultur/1198948_Handelsabkommen-TTIP-Kant-nennt-es-Unrecht.html