Tag Archives: Wahlrechtsreform; Nichtwähler; Protestwähler; repräsentative Demokratie

Wahlrechtsreform – wen repräsentiert die repräsentative Demokratie?

Dirk Löhr

Gegen den Widerstand der Opposition hat die Ampel in der letzten Woche eine Wahlrechtsreform für den Bundestag durchgepeitscht. Die Reform war notwendig: Vorgesehen sind 598 Bundestagsabgeordnete, tatsächlich waren es zuletzt 736. Nur noch der Nationale Volkskongress der Volksrepublik China ist größer – Deutschland leistet sich allerdings das größte frei gewählte Parlament. Der Grund dafür, dass der Bundestag aus allen Nähten platzt, ist das System aus Überhangs- und Ausgleichsmandaten, dem mit der Reform ein Riegel vorgeschoben werden soll.

Bislang kam es zu Überhangsmandaten, wenn eine Partei mehr Direktmandate über ihre Erststimme gewinnt, als ihr über die Zweitstimmen zustehen. Damit die Überhangsmandate nicht die Mehrheitsverhältnisse zwischen den Fraktionen durchkreuzen, bekamen bisher die anderen Fraktionen sog. Ausgleichsmandate. In der Folge zogen immer mehr Abgeordnete in den Bundestag ein.

Wegfallen wird im Zuge der Reform auch die sog. Grundmandatsklausel, die sicherstellen sollte, dass Parteien auch dann u.U. Bundestagsabgeordnete ins Parlament entsenden können, wenn sie die Fünf-Prozent-Klausel nicht nehmen können, aber besonders in der Bevölkerung verankert sind. Nutznießer dieser Regelung waren bislang vor allem die CSU, die bislang nur in Bayern antritt, und die Linkspartei (s. Tagesschau.de). Kein Wunder, dass beide in seltener Eintracht vor Wut schäumen.

Den am politischen Spielfeldrand stehenden Beobachter wundert indessen etwas ganz anderes: So wird in den „Leitmedien“ von der Tatsache, dass die größte aller Parteien überhaupt nicht im Bundestag ist, kaum berichtet. Es handelt sich dabei um die die Partei der Nicht- und Protestwähler. Zu den Letzteren zählen auch die Wähler von Kleinstparteien, die wissen, dass angesichts der Fünf-Prozent-Hürde ihre Stimme damit „verschossen“ ist.

Die untenstehende Tabelle (Daten aufbereitet von: The Pioneer Briefing vom 13.03.2023) illustriert, dass in der letzten Bundestagswahl diese Gruppe zum ersten Mal stärker als die Regierungspartei war. Hierbei wurden die im Bundestag vertretenen Die Linke und die AfD noch nicht einmal mitgezählt.

              JahrKanzlerNichtwählerSonstige/
ungültig
SummeGewinnerpartei
1972Willy Brandt8,9%1,6%10,5%SPD: 41,6%
1983Helmut Kohl10,9%1,2%12,1%CDU/CSU: 43,1%
1998Gerhard Schröder17,8%5,8%23,6%SPD: 33,2%
2005    Angela Merkel22,3%4,2%26,5%CDU/CSU: 26,5%
2021Olaf Scholz23,4%7,3%30,7%SPD: 19,5%

Die Frage muss erlaubt sein: Wen repräsentiert eigentlich die “repräsentative Demokratie”? Die meisten Nicht- oder Protestwähler können mit dem etablierten Parteiensystem nicht mehr viel anfangen.

Sie fühlen sich durch keine der im Bundestag vertretenen Parteien richtig vertreten. De facto handelt es sich bei den im Bundestag vertretenen Parteien jeweils um gesellschaftliche Minderheiten. Ein Beispiel: Von den wie oben errechneten ca. 70% Wählern gaben für Bündnis 90/Die Grünen bei der Bundestagswahl 2021 14,8% ihre Stimme ab. Bezogen auf das Wählerpotenzial sind dies ca. 10,4%. Die Grünen dienen hier nur als Beispiel, für andere Parteien lässt sich Ähnliches sagen. Unabhängig davon, wie man zu den Positionen der Grünen im Einzelnen steht: Es lässt sich wohl kaum behaupten, dass es sich um Mehrheitspositionen handelt. Dennoch prägt das Agenda-Setting dieser sich im Parlament oder gar an der Macht befindlichen Minderheiten die politische Agenda und den medialen Diskurs.

Indessen kommt hier ein grundsätzliches Problem des „Parteienstaates“ zum Ausdruck. Dies beschreibt schon der Begriff an sich: Es geht um die Interessen von bestimmten Gruppen („Parteien“), nicht um das Interesse der Gesamtheit. Die (noch) im Bundestag vertretenen Parteien haben auch keinen Anreiz, auf die Anliegen der immer größer werdenden Gruppe der Nicht- und Protestwähler einzugehen.

Für sie zählt lediglich die relative Stärke im Vergleich zu den anderen Parteien. Hieran ändert sich nichts, wenn die Quote der Nicht- oder Protestwähler steigt – es sei denn, diese Quote ginge speziell zu Lasten der eigenen Partei. Allenfalls sinkt die Legitimität des politischen Handelns; am Ende wird dies aber von der politischen Klasse allenfalls als ein Schönheitsfehler wahrgenommen. Ob am Ende das Volk im Parlament überhaupt noch repräsentiert wird, ist zweitrangig.

Man sollte sich Sorgen machen, wenn der oben skizzierte Trend anhält. Guter Rat ist teuer. U.a. Gregor Gysi (Die Linke), Burkhard Hirsch (FDP) und Gerhart Baum (FDP) hatten schon des Längeren über diese Problematik nachgedacht.

  • Ein Vorschlag lautet, die Sitze im Bundestag entsprechend des Anteils der Nichtwähler unbesetzt zu lassen.
  • Ein anderer, die Parteienfinanzierung entsprechend der Quote der Nichtwähler zu kappen.

Vor allem der zweite Vorschlag ist nicht ohne Charme. Allerdings gibt es gute Gegenargumente gegen beide Wege: Diejenigen, die mit der sog. Parteiendemokratie auf Kriegsfuß stehen, könnten Kampagnen fahren, um die Bürger erst recht vom Wählen abzuhalten – „schenkt es den Parteien mal richtig ein“. Der Demokratie wäre auch dies nicht zuträglich.

M.E. sollte man an dieser Stelle nicht resignieren, sondern überlegen, ob möglicherweise Anreizsysteme etabliert werden können, damit genau dies nicht passiert. Folgt man beispielsweise dem zweiten Vorschlag (quotale Kappung der Parteienfinanzierung), könnte das Geld nicht an den Finanzminister zurückgehen, sondern bei der Folgewahl an jeden Wähler anteilig ausgezahlt werden. Das freilich setzt Digitalisierung und Registrierung voraus. Zudem könnte man mit Recht gegenhalten, dass es hier nicht um eine Frage geht, die ökonomisiert werden sollte. Und: Immer noch bestünde die Möglichkeit, dem Protest durch die Wahl von aussichtslosen Kleinstparteien Ausdruck zu verleihen. Andererseits: Warum sollte nicht auch eine Tierschutzpartei einmal in den Bundestag einziehen? Eine über alle Zweifel erhabene Lösung vermag ich nicht zu präsentieren. Und wahrscheinlich gibt es deutlich sinnvollere Vorschläge als den oben zur Diskussion gestellten – wichtig wäre jedoch, dass eine Debatte in diese Richtung endlich einmal zustande kommt.