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Was kostet die Energiewende? Eine Bierdeckelrechnung

Dirk Löhr

Deutschland möchte bis zum Jahr 2045 klimaneutral werden, sich also dekarbonisieren. Aber was kostet die Energiewende? Genau weiß das keiner. Zwar gibt es Schätzungen und Hochrechnungen. Diese sind aber mit hohen Unsicherheiten behaftet, wenngleich sie teilweise sehr ins Detail gehen und damit eine Genauigkeit vortäuschen, die sie eben nicht haben. Angenehm ist mir daher eine “Bierdeckelrechnung” von André D. Thess von der Universität Stuttgart (Institut für Gebäudeenergetik, Thermotechnik und Energiespeicherung) aufgefallen, die ich nachfolgend einmal vorstellen und dabei auch ein wenig modifizieren möchte. Dabei geht es nur um Größenordnungen, nicht mehr. Ein Anspruch auf Exaktheit wird ausdrücklich nicht erhoben. Thess unterscheidet zwischen dem Wärmesektor, dem Stromsektor und der Mobilität, ich nehme noch den Gebäudesektor hinzu.

a) Wärmeesektor
Thess orientiert sich hier an den Kosten, die vor zehn Jahren bei der Stanford University anfielen, nämlich ca. 15.000 €/Kopf. Allerdings hatte die Stanford University ganz andere Bedingungen als die öffentliche Hand hierzulande. Dies betrifft nicht nur Sonne und Klima, sondern z.B. auch Ausschreibungen und andere Regeln. Dies führt dazu, dass die öffentliche Hand bei Bauvorhaben die veranschlagten Kosten regelmäßig deutlich überschreitet. Stuttgart 21 kostet beispielsweise nicht wie ursprünglich geplant 2,5 Mrd. €, sondern 11,5 Mrd. €. Dieses Beispiel ist sicherlich eher extrem; aus anderen Projekten leitet Thess jedoch einen Sicherheitsfaktor von drei ab. Bei der Stanford-Universität ist dieser hingegen nicht zu berücksichtigen; als private Institution kann sie relativ frei und wirtschaftlich agieren. Der Faktor drei ist somit auf die 15.000 €/Kopf anzulegen. Übertragen auf Deutschland ergibt sich damit:

15.000 €/P. x 3 (Sicherheitsfaktor) x 84 Mio. Menschen = 3,8 Bill. €

b) Gebäudesektor
Anders als in der Stanford University gibt es in der EU und in Deutschland aber auch Bestrebungen, mindestens die Gebäude aus den schlechtesten Energieeffizienzklassen zu sanieren. Diese Kosten sind in der “Wärmerechnung” von Thess nur teilweise enthalten. Gehen wir davon aus, dass sich 15 Prozent der 42 Mio. Wohnungen (pro Wohnung 90 qm Fläche) als sanierungsbedürftig angesehen werden, und setzen wir 750 €/qm als Sanierungskosten an (jeder Bausachverständige wird sagen, dass das nicht ausreicht). Hinzu kommen auch noch die öffentlichen und privaten Nichtwohn-Gebäude, die wir aus der Steuerstatistik mit grob 4,5 Mio. wirtschaftlichen Einheiten à 1.000 qm Nutzfläche beziffern. Wir machen keinen Unterschied zwischen Nutz- und Wohnfläche und es werden dieselben Sanierungsquoten und -kosten wie bei Wohngebäuden unterstellt. Für gut die Hälfte der Nichtwohn-Gebäude (öffentlicher Anteil) wird noch ein Sicherheitsfaktor von 3 angelegt.

Damit ergibt sich folgende Rechnung:
Wohngebäude: 0,15 x 42 Mio. x 90 qm x 750 €/qm (= 0,425 Bill. €)
Nicht-Wohngebäude privat: 0,15 x 4,5 Mio. x 0.45 (privater Anteil) x 1.000 qm x 750 €/qm (= 0,228 Bill. €)
Nicht-Wohngebäude öffentl.: 0,15 x 4,5 Mio. x 0,55 (öff. Anteil) x 1.000 qm x 750 €/qm x 3 (Sicherheitsfaktor) (= 0,835 Bill. €)

Insgesamt: 1,488 Bill. €, gerundet 1,5 Bill. €

c) Stromsektor
Hier orientiert sich Thess an der kanarischen Insel El Hierro, die Energieautarkie anstrebte. Die Kosten pro Einwohner beliefen sich zufälligerweise wieder auf 15.000 €/P. Allerdings gibt es hier andere Bedingungen für Wind- und Solarenergie als in Deutschland. Zudem ist kein stromintensives verarbeitendes Gewerbe vorhanden. In El Hierro stellte man trotzdem fest, dass die Speicherkapazität nicht ausreichte. Thess legt angesichts all dieser und weiterer Umstände wieder den Faktor 3 an. Die Berechnung:

15.000 €/P. x 3 (Sicherheitsfaktor) x 84 Mio. P. = 3,8 Bill. €

d) Mobilität
Hier orientiert sich Thess an Opportunitätskosten, die entstehen würden, wenn man fossile Energiequellen durchsynthetische (Fischer-Tropsch-Verfahren) ersetzt. Der Liter Öl wäre (ohne Steuern) um den Faktor 6 teurer als heute. Allerdings berücksichtigt er, dass sich diese Opportunitätskosten innerhalb von 20 Jahren bis auf Null abbauen. Er macht folgende Rechnung auf:

30.000 €/P. und Jahr x 84 Mio. P. = 2,5 Bill. €

Zusammengerechnet ergibt sich:

a) Wärmesektor: 3,8 Bill. €
b) Gebäudesanierung: 1,5 Bill. €
c) Stromsektor: 3,8 Bill. €
d) Mobilität: 2,5 Bill. €
Gesamt: 11,6 Bill. €

Allerdings muss in Rechnung gestellt werden, dass nicht alle Maßnahmen hier und heute durchgeführt werden, sondern sich über ca. 20 Jahre verteilen. Bei einem angenommenen Diskontierungszinssatz von 3% (!) wäre der Barwert eines Euros in 20 Jahren nur ca. 55 Cent, nach zehn Jahren (Mittel) nur ca. 74 Cent. Daher wird zunächst ein Abschlag von 25 Prozent vorgenommen. Ein weiterer Abschlag von 15 Prozent wird aufgrund von unterstellten Steigerungen der Produktivität (Kostensenkungen aufgrund technischen Fortschritts) hinzugerechnet. Mit dem Abschlag von ca. 40 Prozent reduziert sich der o.a. Wert von 11,6 Bill. € auf einen überschlägigen Barwert an Investitions- und sonstigen Aufwendungen von 7 Bill. €. Dies macht ca. 40 Prozent des gesamten Sachvermögens in Deutschland von ungefähr 17,5 Bill. € aus (Zahlen aus 2022) – oder (nicht abgezinst) ca. 350 Mrd. € pro Jahr. Man nähert sich damit den Dimensionen eines Bundeshaushalts.
Pro Kopf der Bevölkerung stellen die Kosten von insgesamt 7 Bill. € gut 80.000 € oder ca. 75 Prozent des Median-Nettovermögens von 106.600 € dar. Bezogen auf jeden Arbeiter und Angestellten, die die Belastung letztlich zu schultern haben, ergeben sich fast 150.000 €.

Würde die geplante Regulatorik beibehalten, würde also der Sachkapitalstock um 40 Prozent abgewertet. Um dies zu verhindern, müsste jeder Arbeitnehmer in den kommenden 20 Jahren ca. 150.000 Euro aufbringen, dies sind ca. 7.500 € pro Jahr. Zum Vergleich: Das durchschnittliche Nettoäquivalenzeinkommen in Deutschland liegt bei ca. 25.000 € pro Jahr. Die Reallohnminderung durch zusätzliche Abgaben und höhere Energiekosten würde also ca. 30 Prozent betragen müssen, wenn die Dekarbonisierungsziele erreicht werden sollen. Akzeptiert dies die Gesellschaft?

Die erneuerbaren Energien (Wärme- und Stromsektor) im engen Sinne machen ca. 65 Prozent der oben errechneten Gesamtkosten aus (s. obige Rechnung). Bei Kosten für eine Kugel Eis von 2 € (und unterstellter grober Identität der Anzahl von Haushalten und Arbeitnehmern) sind dies ca. 200 Kugeln Eis pro Monat und Haushalt. Der damalige Bundesumweltminister Jürgen Trittin veranschlagte die Kosten der Erneuerbaren Energien im Jahre 2004 auf eine Kugel Eis pro Monat und Haushalt.